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Photographien im Vorbeifahren: von Birgit Jooss 

 

Der Vorteil des Photographierens ist, dass man durch das schnelle Abdrücken des Auslösers einen kurzen Moment unserer Wahrnehmung deutlich und detailgenau abbilden kann. Dadurch entsteht das Bild eines spezifischen Ortes zu einem bestimmten Zeitpunkt. Doch entspricht dies tatsächlich unserer Wahrnehmung? Befinden wir uns nicht ständig in Bewegung und nehmen unsere Umgebung gerade nicht deutlich und detailgenau, sondern oft unspezifisch und zufällig wahr?

 

Genau dieser Frage ist Oliver Möst mit seinen Photographien auf der Spur, die während diverser Autofahrten entstanden. Der Titel seiner Serie lautet „audigraphien“, eine Bezeichnung, die auf seinen Audi 80 zurückgeht, dessen Seitenfenster während der etwa zweiminütigen Autofahrten als „Stativ“ dient. Je nach Ampel- und Geschwindigkeitssituation erzielt er mehr oder weniger wiedererkennbare Bildergebnisse – bestimmt durch den Verkehrsfluss. Möst geht es - im Gegensatz zu konventionellen Geschwindigkeitsaufnahmen, die alles Konstante scharf und alles Bewegte unscharf abbilden - um eine direktere, subjektive Ausdrucksweise. Er möchte seine eigene private Wahrnehmung von alltäglichen Fahrten vermitteln, in der sich die feststehende Umwelt in Bewegungsunschärfe auflöst. Die Konstante des eigenen ruhigen Standpunktes lässt er jedoch absichtlich außer Acht. Nicht die Relation zwischen ihm und der vorbeirauschenden Umwelt, nicht die Geschwindigkeit an sich, sondern der subjektive Blick ist von Interesse.

 

Oliver Möst bedient sich hierfür einer linsenfreien Lochkamera, die ihm längere Belichtungszeiten und einen Weitwinkel ermöglicht. Aufgrund der materiellen Ausstattung ist dies sicherlich eine der unaufwendigsten Möglichkeiten zu photographieren: Ein Kameragehäuse ist aus jedem lichtdichten Behälter herzustellen, während Sucher, Objektiv, Belichtungs- und Zeitautomatik, Auslöser, Verschluss oder sonstige technische Raffinessen komplett fehlen. Stattdessen ist der schwarz ausgekleidete Kasten - Möst benutzt das Gehäuse einer Hasselblad ohne Objektiv - mit einem winzigen, höchstens 1 mm großen Loch versehen, durch welches das gebündelte Licht und somit das Bild der Umgebung auf die lichtempfindliche Schicht auf der rück-wandigen Kamerainnenseite projiziert wird. Um zu adäquaten Bildergebnissen zu kommen, muss der Photograph zuvor die Länge der Belichtungszeit je nach Helligkeit genau berechnen. Auch die Ausschnittwahl kann nicht exakt bestimmt werden, so dass Imagination und Erfahrung an die Stelle „verlässlicher“, hochentwickelter technischer Perfektion treten. Bei seinen Fahrten kann der Photograph nicht genau kalkulieren, wie viel Strecke er innerhalb seiner Belichtungszeit zurücklegen kann, ob er schnell vorankommen oder lange ins Stocken geraten wird. Je konkreter das Bild, desto langsamer war sein Fortbewegungstempo, während hohe Geschwindigkeit ein abstraktes Bildergebnis zur Folge hat.

 

Entsprechend lassen sich zwei Gruppen innerhalb der Serie erkennen: die der Großstadt Berlin sowie die der deutschen Autobahnen. Während einige der Stadt-Bilder ganz konkrete Motive erkennen lassen – etwa bei den Aufnahmen „Leipziger Straße“, „Glinkastraße - Unter den Linden“, „Münzstraße - Alexanderplatz“, oder „Kantstraße - Joachimstaler Straße“– bleiben andere weitgehend abstrakt, so dass sich realistische Gegenstände nur erahnen lassen. Wie in unscharfen Traumbildern, in denen man vergeblich versucht, dem Realen habhaft zu werden, oder in Nebelsituationen, die einen auf der Suche nach der klaren Sicht zur Verzweiflung bringen, tauchen schemenhaft Objekte auf, die sich jedoch nicht konkret einordnen lassen. Die Autobahnbilder haben die Ebene der „Ahnung“ weitgehend verlassen, sie zeigen rein abstrakte Farbfelder, die man in der Regel nicht mehr vom Medium Photographie erwartet. Die Nähe zur abstrakten Farbfeldmalerei ist offensichtlich. Bei diesen Fahrten ermöglichte die höhere Geschwindigkeit sowie die gleichförmigere Landschaft eine klare Trennung von Himmel und Erde.

 

Sowohl der Horizont, als auch die Leitplanke schaffen Geraden, die den Bildern eine klare Struktur geben. Die Photos spiegeln somit die Situation von Bewegung und Stillstand wieder, real Gesehenes bleibt bisweilen verborgen, während vielleicht nicht Wahrgenommenes festgehalten wird - analog zu unserer Erinnerung, die selektiv und selten detailgenau ist. Bestechend ist die lyrische Stimmung der Photographien, vor allem hervorgerufen durch den blaugrauen Gesamtton der Aufnahmen, der - je nach Landstrich, Tages- und Jahreszeit - ins grünliche, bisweilen in rosa Töne changiert.

 

Das Phänomen der Unschärfe, ein äußerst aktueller und bestimmender Faktor aller Bildmedien, macht die Lochkamera-Aufnahmen von Oliver Möst - alle „high tec“-Entwicklungen ignorierend - zu einem aktuellen Ausdrucksmittel unserer Zeit.

 

 

 


Drive-by shooting(s) a text from Birgit Jooss


The advantage of photography is that a brief moment of our reality can be clearly and precisely captured with the press of a button. “Snap” and a picture of a particular place at a particular time is created. But is a snapshot really a representation of our reality? Are we not constantly on the move? And do we not perceive our surroundings in a vague and haphazard, rather than a clear and precise, way?

 

In his diverse on-the-road pictures, photographer Oliver Möst is chasing answers. audigraphien (audigraphs), the title of this series, is a reference to his Audi 80 - the side window of which served as a “tripod” for these approximately two-minute exposures. Depending on stop lights and speed limits, he obtains more or less recognizable photographic effects in the stop and go of traffic.

In contrast to conventional motion photography - where everything constant is clear and everything moving is blurry - Möst chooses a more immediate and subjective expression of motion. He wants to portray his private perception of the everyday car ride in which the stationary world disintegrates into a blur of movement. Yet he purposely ignores the constant of his own steady perspective. It's the viewer's view, not the relationship between himself and the rush-a-bye world or speed, for speed's sake, which is of interest here.

 

Oliver Möst picks up a pinhole camera – equipped for long exposure times and a wide-angle perspective - and starts shooting. Certainly on the basis of material requirements, this is one of the easiest ways to take pictures. A camera can be fashioned out of any lightproof container; no need for such technical fineries as a viewfinder, lens, automatic exposure meter, release button, or aperture. Möst just redesigns the basic black outfit of a Hasselblad by removing the lens and piercing it with a tiny (at the most 1 mm in diameter) hole. A stream of light carries the surrounding image through the hole and projects it onto the light-sensitive layer on the far interior of the camera. To take decent shots, a photographer must first precisely calculate exposure time in relation to the amount of available light and keep his subject in sight - not so in Audigraphien (Audigraphs). Here imagination and experience replace “trusted” hi-tech perfection.

 


The photographer can't predict just how much pavement he'll be able to cover during the alloted exposure time: Will he speed right along or end up in the slow lane? The more concrete the picture then, the slower he was moving along; the faster he was moving, the more abstract the picture. Two main themes aptly characterize the series: the big city of Berlin and the German autobahn system. While some of the city shots can be concretely identified – like those aimed at “Leipziger Straße”, “Glinkastraße – Unter den Linden”, “Münzstraße – Alexanderplatz”, “Kantstraße – Joachimsthaler Straße” - others remain largely abstract with only a hint of the real subjects. Like the futile attempt to get a hold of reality amidst the hazy images of a dream, or the desperate search for a clear view under foggy conditions, shadowy objects appear which refuse to be known or given names.

 

The autobahn images have largely deserted familiar territory. They portray pure, abstract “colorscapes” which are not normally seen in the field of photography. The resemblance to colorfield abstract painting can't be overlooked. High speed and unchanging landscapes, trademarks of these excursions, clearly separate heaven from earth. The horizon and guardrails create lines which give the pictures a visible structure. The photos thus reflect the idiosyncrasies of motion / no motion, namely what's there is sometimes not seen, and that not seen may well be captured – analogous to our memories, which are selective and untrue to detail.

 

The lyrical mood of the photos is contagious, particularly the general overcast of blue-gray tones which metamorphose into variations of green and sometimes pink according to landscape, season and time of day. The phenomenon of the blur is a major driving force in all areas of contemporary visual media. The pinhole shots of Oliver Möst, in lieu of all hi-tech developments, are state-of-the-art.


© Oliver Möst

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