Glaubt man Araki, gibt es in jedem Haushalt mindestens ein gutes Fotobuch: Das Familienalbum.

 

Ob das heute im digitalen Zeitalter noch zutrifft? Ich bin nicht sicher. Oliver Möst aber ist in den 1970er Jahren aufgewachsen und wie viele andere sammelten auch seine Eltern die sorgfältig fotografierten Familienbilder in Fotoalben. Dass die eigenen Kinder dabei oft die Hauptrolle spielen, versteht sich von selbst.

 

Für KIND hat Oliver Möst Bilder ausgewählt, die ihn im Vorschulalter zeigen. Als Säugling im Arm der Mutter, als Kleinkind beim Spielen im Garten, beim Ausflug zum See mit Vater, Mutter, Onkel inkl. Schwäne füttern, oder flott angezogen neben einem Kombi kurz vor einer großen Tour. Natürlich sind auch unsere eigenen Erinnerungen an die frühe Kindheit verschwommen. Oliver Möst aber, der mit einem Sehfehler geboren wurde, hat sie tatsächlich unscharf erlebt. Die eigentlich scharfen Erinnerungsbilder aus dem Album hat er für KIND in einem mehrstufigen fotografischen Verfahren in unscharfe verwandelt. Wahrscheinlich funktionieren sie deswegen so gut als Projektionsflächen für schwach erinnerte eigene Erlebnisse: Buddeln im Sand, Besuch bei Onkel Rudi und Tante Margarete, Urlaubsreise an die Nordsee ...

 

Hannes Wanderer, 2015

 

 

 

Ein Spiel mit der Wahrnehmung

Das Bild von sich selbst als Ausgangspunkt für ein eigenes Bild

 

Wenn Eltern und Großeltern von großen Kinderaugen angeschaut werden und eine Kamera in der Nähe ist, wird aus dieser Situation häufig ein Bild – das lässt sich bis heute beobachten. Früher wurden solche Aufnahmen zumeist in Alben geklebt oder auf Diaabenden im Familienkreis gezeigt. Kinder wachsen bekanntlich schnell, und so gleichen die Porträts schon bald wieder einem Blick in die Vergangenheit. Gelegentlich kann jene Vergangenheit individuell und kollektiv zugleich sein, so ist es auch hier der Fall: Denn trotz der extremen Unschärfen sind Kleidung, Einrichtungsgegenstände oder Automodelle so offensichtlich in die 1970er Jahre zu datieren, dass es für die Generation der Babyboomer, der auch Oliver Möst angehört, wie der Blick in die eigene Kindheit erscheinen mag.

 

Der Berliner Künstler sieht schlecht und hat seine Sehschwäche zum Konzept für eine Bildserie erhoben, mit der er in die eigene Kindheit zurückblickt. Möst benutzt Photographien aus dem familiären Bilderschatz, auf denen er selbst zu sehen ist, mal allein in einer Wanne, mal mit der Mutter in einer Hollywoodschaukel, aber auch der Vater, Großvater und die Großmutter tauchen auf, in unterschiedlichen Situationen und Personenkonstellationen. Alle Bilder sind unscharf und stecken in sonderbar gemusterten Rahmen. Diese farbigen Muster kommen uns irgendwie bekannt vor, obwohl sie keine wirkliche Beziehung zum jeweiligen Bildinhalt zu haben scheinen. Sie entstammen den Bucheinbänden der legendären Insel-Bücherei, die seit über 100 Jahren mit inzwischen über 1000 Titeln existiert und von Möst seinen Kinderbildern intuitiv zugeordnet werden. Der Titel des jeweiligen Buches, das die Photographie als Farbmuster schließlich rahmt, wird vom Künstler auch für das eigene Bild als Titel adaptiert, etwa „Frühe italienische Tafelbilder“ oder „Schwarze Reiter“, und so schickt er uns zunächst auf die falsche Fährte.

 

In den ersten Lebensjahren, berichtet Möst, sei der Blick auf die Welt von intensiven Farben bestimmt und die Konturen der Dinge zeichneten sich nicht klar ab. Das gilt natürlich umso mehr, wenn man schon in Kindertagen eine Sehschwäche hat wie Möst. Sein Projekt Unser Kind ist eine kritisch-heitere Nabelschau – und zugleich mediengeschichtlich verwurzelt. In der Pionierzeit versuchten die Photographen durch etliche Tricks, möglichst scharfe Bilder von der Welt zu machen, was durch die verkürzten Belichtungszeiten einige Jahrzehnte später immer erfolgreicher gelang. Doch um 1900 gab es mit den Piktorialisten erstmals eine Gegenbewegung. Sie verfolgten explizit einen künstlerischen Anspruch mit dem Ziel einer symbolischen Überhöhung des Gegenstandes und schufen beispielsweise Bromöldrucke, auf denen Außenform und Binnenzeichnung der Bildgegenstände nicht scharf gezeichnet waren. Solche Unschärfen im photographischen Bild werden – bis heute –„malerisch“ genannt, und dies verweist indirekt auf einen Wettstreit unter den Künsten. Seitdem stehen sich die Realisten und die Abstrakten auch in der Photographie in zwei Lagern unversöhnlich gegenüber.

 

Die Zeitgenossen bedienen sich des Stilmittels der Unschärfe in Kombination mit angeeigneten (Medien-)Bildern noch immer, etwa Thomas Ruff in seinen Nudes oder Hiroshi Sugimoto in seinen Architekturaufnahmen. Dunja Evers oder Gerhard Richter verändern das visuelle Ausgangsmaterial durch Übermalungen oder Verwischungen ebenfalls radikal. Oliver Möst und seine Kollegen erteilen insofern der Mimesis eine klare Absage und legen gewissermaßen zusätzliche Schichten über das zugrunde liegende Bild. Solche Metamorphosen, technisch und inhaltlich jeweils höchst individuell, erfordern darüber hinaus eine besondere Rezeption – und ein grundsätzliches Nachdenken über Wahrnehmung.

 

Tatsächlich eignet sich Möst fremde Bilder an, wenngleich er häufig auf ihnen selbst abgebildet ist. Aufgenommen wurden sie vom Großvater, von seinen Eltern oder einem Onkel, meist im Allgäuer Heimatort Hopfen am See, was idyllisch klingt und in den 1970er Jahren sicherlich auch war. Mösts Anteil am finalen, diffusen Bild ist nun, einige Jahrzehnte später, deren Auswahl und Verwandlung. 

 

Er hat Bild für Bild reproduziert, seitenverkehrt auf eine Milchglasscheibe projiziert und die Projektion schließlich mit einer Kamera aufgenommen, deren Linse mit seinem rechten Brillenglas verbunden war. Kurz vor Schulbeginn wurde bei Möst ein Astigmatismus, also eine Hornhautverkrümmung, festgestellt, und seitdem trägt er eine Brille mit dicken Gläsern. Konsequenterweise wählt er für dieses Projekt Porträts von sich und seiner Familie aus, die vor der Korrektur der Sehschwäche entstanden sind. Bis dahin hat der Künstler die Welt in etwa so verschwommen wahrgenommen, wie wir sie hier sehen. Das eindringende Licht, das die Außenwelt, die Menschen und Gegenstände normalerweise scharf zeichnet, wurde in seinen Augen schlicht falsch gebrochen. Die letzte Aufnahme der Serie hingegen zeigt den adretten Sechsjährigen mit schwarzer Brille artig wartend kurz vor einem familiären Nachmittagskaffee, möglicherweise zu seiner Erstkommunion, und dieses Polaroid ist das einzige Bild, das normal fokussiert ist. 

 

 

Der Astigmatismus ist durch die individuell geschliffenen Brillengläser korrigiert worden – und die Welt (für ihn) seitdem scharf. Beim Transformationsprozess vom alten ins neue Bild verändert, ja verstärkt sich die Lokalfarbigkeit, Pflanzen werden zu grün, Kleidung und Gesichter mitunter zu rot. Die „falsche“ Farbigkeit und das Ausbrechen der Lichter verschieben den Realismus hier partiell in eine tagtraumhafte Abstraktion oder verbinden schlicht die beiden Darstellungsmodi innerhalb eines Bildes. Dass der Wandel dabei von analoger zu digitaler Photographie verläuft, bleibt jedoch marginal. Die Bilder sind so authentisch wie eine vage Erinnerung. Und in der Erinnerung an die eigene Kindheit verschwimmt die Grenze zwischen Wahrheit und Fiktion, zwischen Selbsterlebtem und Erzähltem. 

 

Auch in der Rezeption existiert eine ähnliche Ambivalenz: Je mehr wir uns der Photographie nähern, desto mehr entzieht sie sich. Es ist paradox, der ideale Betrachterstandpunkt liegt etwa in der Raummitte.

 

Manches lässt sich trotz der wolkigen Farbschlieren sofort erkennen. Neben dem Familienauto, einem weißen Ford oder Opel Kombi, funktioniert die Figur des Jungen auf dem Bild auch als Größenmaßstab – und es zeigt zugleich den Besitzerstolz bürgerlicher Schichten: Das selbst gebaute Haus mit Garten und der geräumige PKW in der Garage nebenan gehörten damals zum Standard der breiten deutschen Mittelschicht. Auf anderen Aufnahmen sehen wir, wie das Kleinkind mit der Oma die Schwäne füttert, in kurios-bunten Strampelanzügen oder Kostümen steckt, schließlich nackt in einer roten Plastiksandkiste spielt. Nichtsdestotrotz, dieses seltsame Familienalbum könnte unser eigenes sein.

 

Unschärfe ist Stimmungsträger und Stilmittel, kann in der Kriegsphotographie einen dramatisierenden Effekt haben oder in den Aufnahmen von (angeblich) spiritistischen Sitzungen das Enigmatische verstärken. Auch in Antonionis einflussreichem, rätselhaftem Film „Blow Up“ markiert die Unschärfe im Rahmen der schrittweisen Vergrößerung eines kleinen Details einer Kleinbildaufnahme die natürliche Grenze des zu Beschreibenden und zu Verifizierenden. Die Frage dahinter – was kann eine Photographie über die Realität definitiv aussagen? – ist auch des Pudels Kern im Werk von Möst. Die Unschärfe als Metapher für Vergangenes. Das Ich (des Künstlers) wird schließlich zum Stellvertreter einer Kindheit im Allgemeinen. Möst entzieht uns den Gegenstand und bietet zugleich eine individuelle Rezeption. Das Ich wird im endgültigen Bild beinahe ausgelöscht und gleichzeitig als eigene Identität vom Künstler untersucht; das Bild von sich selbst ist schließlich Ausgangspunkt für ein eigenes Bild. So lotet Möst die unterschiedlichen Möglichkeiten von Darstellung und Wahrnehmung in seinen Porträts subtil aus. Allein, es fehlen die dramatischen Wandlungen in der Erzählung: Unfälle, Beerdigungen, existentielle Situationen. All dies gibt es manchmal schon in einem jungen Leben, es wird aber normalerweise nicht in ein Familienalbum geklebt.

 

Matthias Harder

 

 

erschienen bei Peperoni Books 2015, mit einem Text von Matthias Harder

"Oliver Möst, Kind", ISBN 978-3-941825-78-9, 64 Seiten, Verlag: Peperoni Books, Berlin

© Oliver Möst

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